Wege aus dem Pflegenotstand
Author: Thorsten Rienth
Für das Jahr 2055 prognostiziert das Statistische Bundesamt rund 6,78 Millionen Pflegebedürftige – fast drei Millionen mehr als noch vor zwei Jahren. Überall fehlt Pflegepersonal.
Doreen Pappritz ist 42 Jahre alt, als sie Kelle und Wasserwaage für immer zur Seite legt. „Der Leiter eines Seniorenheims, in dem ich ab und zu ehrenamtlich gearbeitet habe, fragte mich, ob ich nicht vielleicht bei ihm als ungelernte Pflegekraft anfangen wolle.“ Die gelernte Baufacharbeiterin Pappritz wollte – und vollzog mitten im Berufsleben den Branchenwechsel. Nach einer klassischen Pflegeausbildung und vielen Jahren im Berufsleben war das rückblickend der richtige Schritt. „In der Pflege habe ich Sinn gefunden, bekomme praktisch jeden Tag echte Dankbarkeit zu spüren.“ Auf der Baustelle war das anders.
Der Beschäftigungsaufbau in der Pflege verliert an Dynamik
Umschülerinnen wie Doreen Pappritz sind ein Segen für eine Branche, die mit der Arbeit nicht mehr hinterherkommt. Schon heute müssen in Deutschland laut Hans-Böckler-Stiftung zwei von drei Männern und vier von fünf Frauen im Alter gepflegt werden. Und schon bald kommen die geburtenstarken Jahrgänge vor dem „Pillenknick“ ins pflegebedürftige Alter. Laut der Statistikplattform Statista belief sich die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland zum Jahresende 2021 auf rund 4,96 Millionen Menschen. Für das Jahr 2055 prognostiziert das Statistische Bundesamt rund 6,78 Millionen Pflegebedürftige.
Die gute Nachricht: Auch die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Pflege steigt der Agentur für Arbeit zufolge von Juni 2017 bis Juni 2022 von 1,52 auf 1,68 Millionen. Die schlechte Nachricht: „Seit Anfang 2022 hat der Beschäftigungsaufbau in der Pflege allerdings spürbar an Dynamik verloren.“ Auch die Anzahl neu abgeschlossener Ausbildungsverträge für die Ausbildung zum Pflegefachmann/Pflegefachfrau sei gesunken.
Gerade in sozialen Berufen ist Geld kein Hauptfaktor
Finanziell hat das Gegensteuern bereits begonnen. Anfang Mai 2023 hat sich der Stundenlohn für Pflegefachkräfte laut der Gewerkschaft Verdi von 17,10 Euro auf 17,65 Euro erhöht. Schon im Dezember kommt die nächste Erhöhung, und zwar auf 18,25 Euro. Das bedeute bei einer 40-Stunden-Woche ein Grundentgelt von 3.174 Euro monatlich, schreibt Verdi auf ihrer Website. Pflegekräfte in der Ausbildung erhalten seit dem 1. Mai 2023 13,90 Euro pro Stunde, ab Dezember 14,15 Euro. Die Gewerkschaft verweist zudem auf den um zwei auf 29 Tage gestiegenen Urlaubsanspruch bei einer Fünftagewoche. Zur Wahrheit gehört aber auch: Gerade in sozialen Berufen macht das Geld nicht den Hauptfaktor aus. Wichtiger sind die Arbeitsbedingungen. Doch sie sind oft derart schlecht, dass in den vergangenen Jahren reihenweise Beschäftigte ihren Job kündigten oder ihre Arbeitszeit reduzierten.
Mehr Zuwendung, verbindliche Dienstpläne und vereinfachte Dokumentation
Sollten sich die Bedingungen verbessern, könnten viele von ihnen zurückkehren, ergab zuletzt die Studie „Ich pflege wieder, wenn …“, die von der Arbeitnehmerkammer Bremen, der Arbeitskammer im Saarland und der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen durchgeführt wurde. Rund 12.700 ehemalige oder in Teilzeit beschäftigte Pflegekräfte nahmen teil.
Etwa die Hälfte der Teilzeitbeschäftigten und sogar 60 Prozent der Ausgestiegenen könnten sich demnach bei verbesserten Arbeitsbedingungen wie zum Beispiel mehr Pflegekräften pro Patient, verlässlichen Schichten, mehr Zeit für menschliche Zuwendung, verbindlichen Dienstplänen und vereinfachter Dokumentation vorstellen, ihre Arbeitszeiten aufzustocken oder in den Pflegeberuf zurückzukehren. Selbst bei sehr vorsichtiger Kalkulation ergibt sich der Studie zufolge ein rechnerisches Potenzial von 302.000 Pflegekräften in Vollzeit, in einem optimistischen Szenario sogar von bis zu 661.000 Vollzeitkräften.
Echte Psychohygiene schlägt gut gemeinte „Benefits“
Während die meisten Aspekte verbesserter Arbeitsbedingungen mit politischen Entscheidungen stehen oder fallen, haben die Einrichtungen auch selbst einen Hebel in der Hand. Damit Teams sich wohlfühlen, gibt es gerade in größeren Einrichtungen gemeinsames Yoga, Resilienzunterricht, Rückensprechstunden und bisweilen sogar Hilfe bei der Kinderbetreuung.
Doreen Pappritz, mittlerweile Pflegetrainerin an der DEKRA Akademie, warnt allerdings vor Augenwischerei. „Keine Frage: Das sind schöne und sicherlich gut gemeinte Benefits. Ob das den Pflegekräften bei der Ausübung ihres Berufs jedoch wirklich weiterhilft, steht auf einem anderen Blatt.“ Pappritz verweist auf Supervisionsangebote, wie sie etwa bei Feuerwehren und Rettungsdiensten zum Arbeitsalltag gehören. „Damit geht echte Psychohygiene einher, die in der Belegschaft Krankenstände senkt und entgegenwirkt, dass Leute Stunden reduzieren oder sich in ganz anderen Branchen nach Arbeitsplätzen umsehen.“
Pflegekräfte können sich ihre Arbeitgeber aussuchen
Ende Mai hat der Bundestag das Pflegeunterstützungs- und Entlastungsgesetz (PUEG) beschlossen. Zum 1. Juli 2023 wird der gesetzliche Beitragssatz zur Pflegeversicherung von derzeit 3,05 auf 3,4 Prozent erhöht. Der Zuschlag für Kinderlose steigt von 0,35 Prozent auf 0,60 Prozent, was dann einem Beitragssatz von 4,0 Prozent entspricht. Bei Familien mit Kindern geht die Rechnung andersherum. Wer drei Kinder versorgt, bezahlt 2,9 Prozent. Die jährlichen Mehreinnahmen von 6,6 Milliarden Euro sollen gerade auch zu verbesserten Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte beitragen.
Ob das reicht? Doreen Pappritz hat da ihre Zweifel. „Es ist einfach unglaublich viel aufzuholen“, sagt sie. Und die Geduld der Pflegerinnen und Pfleger sei nun einmal endlich. Vor Kurzem habe sie das 10-jährige Jubiläumstreffen ihres Pflege-Ausbildungsjahrgangs besucht. „Von ungefähr 35 Leuten sind vielleicht noch fünf als Pfleger tätig.“
Richtig ist aber auch: Manches hat sich in der Zwischenzeit grundlegend zum Positiven geändert. „Vor zehn Jahren haben Arbeitgeber noch den Jahresvertrag beendet, wenn jemand nicht in allen Schichten eingesetzt werden konnte“, erzählt Pappritz. „Heute können sich die Pflegekräfte ihre Arbeitgeber aussuchen.“ Nur noch Nachtschichten übernehmen oder als Springer pflegen, wenn irgendwo Urlaubs- oder Krankheitslücken zu stopfen sind? „Alles kein Problem mehr“, versichert Pappritz. „Wenn ein Arbeitgeber diese Flexibilität heute nicht mehr mitbringt, steht er schnell ohne Leute da.“
„Wir brauchen Leute mit Mitgefühl, nicht mit Mitleid“
Philipp Lutze, Leiter HealthCare Training bei der DEKRA Akademie, über die Umschulung zur Pflegehilfskraft
DEKRA Solutions: Die Einkommen im Pflegebereich steigen gerade deutlich, teilweise sogar um über 11 Prozent. Stehen jetzt die Umschüler bei Ihnen Schlange?
Lutze: Dass die Einkommen mit den neuen Tarifabschlüssen gestiegen sind, ist richtig und war auch überfällig. Aber das löst noch keinen „Run“ auf die Pflegeberufe aus.
Warum nicht?
Viele Pflegekräfte verdienen im Vergleich zu anderen Berufen netto gar nicht schlecht. Das liegt an den zahlreichen steuerfreien Zuschüssen. Aber anders als beim regulären Lohn fließt von den sozialabgabenfreien Zuschüssen nichts in die Rentenkasse. Deshalb verhindert die Sorge vor Altersarmut leider so manchen Berufseinstieg oder Umschulungswunsch in den Pflegebereich.
Die DEKRA Akademie bietet ein Umschulungsprogramm zur Pflegehilfskraft an. Welche Leute zeigen Interesse – und was haben sie beruflich vorher gemacht?
Interessanterweise gibt es hinsichtlich der früheren Berufe keinerlei Häufung. Mir scheint es wie ganz normaler Querschnitt durch die Bevölkerung. Es fällt aber auf, dass die Altersgruppe der 35- bis 40-Jährigen überproportional stark vertreten ist. Oft liegen hier einschneidende Erlebnisse aus dem privaten Bereich vor, zum Beispiel, dass jemand sehr in die Pflege der Eltern eingebunden ist. Andere Interessenten wiederum sind in diesem Alter schon 15 oder 20 Jahre im gleichen Beruf und suchen eine neue Erfüllung – weil sie einfach nicht mehr mit einem guten Gefühl in den Feierabend gegangen sind.
Welche Voraussetzungen oder Anforderungen sollten Umschüler zur Pflegehilfskraft mitbringen?
Ohne Empathie geht in der Pflege überhaupt nichts. Sie ist unabdingbar, um den Patienten einfühlsam zur Seite stehen zu können. Genauso unabdingbar ist eine klare Abgrenzung: Wir brauchen Leute mit Mitgefühl, nicht mit Mitleid. Wer mit Mitleid an die Sache geht, geht kaputt! Belastbarkeit ist ebenfalls wichtig: Pflegeberufe sind physisch und psychisch sehr anspruchsvoll. Es braucht nun einmal Kraft, um Patienten richtig zu lagern. Dass Tod und Sterben in Pflegeeinrichtungen dazugehören, darf ebenfalls nicht abschrecken. Auch Organisationstalent, Kommunikations- und Teamfähigkeit dürfen nicht fehlen: Nicht nur die Themen Lagerung, Wundversorgung und Harn- und Stuhlkontrolle sind komplex. Das gilt auch für die Arbeitsabläufe der Station, die im Sinne der Patienten effizient koordiniert werden wollen.