Luftfahrt – noch mal ganz von vorn
Author: Joachim Geiger
Für die Luftfahrtindustrie ist die nachhaltige Fliegerei eine Jahrhundert-Aufgabe. Natürlich spielen dabei auch alternative Antriebe mit Batterien, Wasserstoff und Brennstoffzellen eine wichtige Rolle. Aber kein Ingenieur kann einfach tonnenweise Akkus in einen Flieger packen. Gefragt sind jetzt radikale und revolutionäre Flugzeug- und Antriebskonzepte.
Die globale Luftfahrt befindet sich am Anfang einer Transformation zur Klimaneutralität. Dies ist eine Aufgabe, die die Bemühungen der Automobilindustrie in diese Richtung übertrifft. Bis 2050, so will es die Weltluftfahrtorganisation IATA, soll das ambitionierte Ziel erreicht sein. Tatsächlich ist der gesellschaftliche Druck zur Veränderung riesengroß. Sogar die Hüter der deutschen Sprache haben den Begriff der „Flugscham“ in ihren offiziellen Wortschatz aufgenommen. Definiert ist der Begriff als das schlechte Gewissen, das Klima beim Reisen mit dem Flugzeug vor allem durch den hohen CO2-Ausstoß zu belasten. Muss also die Maxime für die emissionsfreie Luftfahrt lauten: runter mit Kohlendioxid?
Wenn es denn so einfach wäre. Schließlich gehören auch die Wirkungen von Stickoxiden, Wasserdampf, Ruß, Sulfat-Aerosolpartikeln und Kondensstreifen zu den Hypotheken der Fliegerei. Eine 2020 unter Beteiligung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Köln veröffentlichte internationale Studie kommt zu dem Ergebnis, dass nur ein Drittel der Klimawirkung des Luftverkehrs aus CO2-Emissionen besteht, während zwei Drittel aufs Konto der Nicht-CO2-Effekte gehen. Damit das emissionsfreie Luftfahrzeug, das weder im Flug- noch im Bodenbetrieb Schadstoffe emittiert, Realität werden kann, muss die Branche alle Register ziehen.
Die Anforderungen an die Antriebstechnologie sind höher als in der Autoindustrie
Alternative Antriebe auf der Basis von Wasserstoff und Elektrizität werden in der Luftfahrt künftig eine wichtige Rolle spielen, ebenso hybride Systeme und synthetische Kraftstoffe. Wohin die Reise geht, hat das DLR – das Forschungszentrum der Bundesrepublik Deutschland in Sachen Luftfahrt – in seinen Ende 2020 veröffentlichten Weißbuch zur emissionsfreien Fliegerei umfassend beschrieben. Demnach wäre es wohlfeil, die im Bodenverkehr bewährten technologischen Strategien auf die Luftfahrt übertragen zu wollen. Anders als in der Autoindustrie gibt es in der Branche keine Blaupausen, auf denen neue Flugzeugkonzepte aufbauen könnten. Dazu kommt, dass die Anforderungen an das Leistungsgewicht eines Antriebs und an die Energiedichte der Energieträger um ein Vielfaches größer als im Automobilbau sind. Einem Luftfahrtingenieur wäre es jedenfalls ein Graus, für einen alternativen Antrieb tonnenweise Batterien, Tanks und Motoren an Bord zu packen. Moderne Flugzeuge sind perfekt ausbalancierte Systeme – wer an den Stellschrauben für neue Antriebskonzepte dreht, muss handfeste Auswirkungen auf Design, Sicherheit, Flugleistung und Aerodynamik in Kauf nehmen.
Die Luftfahrtindustrie steht vor einer Herkulesaufgabe
Was aber heißt das für die Entwicklung emissionsfreier Flugzeuge? Die Technologiereife alternativer Antriebslösungen für die Luftfahrt ist derzeit sehr gering. Die Luftfahrtindustrie steht daher vor nichts weniger als der Aufgabe, das Fliegen neu zu erfinden. Aufgrund der hohen Sicherheitsanforderungen und der damit verbunden Hürden bei der Zulassung brauchen neue Flugkonzepte jedoch sehr viel Zeit – für die Weichenstellung in die Zukunft ist es daher fünf vor zwölf. Gefragt sind radikale und revolutionäre Flugzeug- und Antriebskonzepte. Bevor die Flugzeughersteller mit den ersten alternativen Modellen auf die Startbahn rollen, ist noch jede Menge Forschungs- und Entwicklungsarbeit zu leisten.
Batterieelektrische Konzepte zum Beispiel ermöglichen zwar eine gute Leistungsdichte und einen hohen Wirkungsgrad – der entscheidende Nachteil ist jedoch die geringe Energiedichte der Batterien. In diesem Punkt hat Wasserstoff klar die besseren Karten. Im Lastenheft für den Wasserstoff-Brennstoffzellenantrieb steht das Leistungsgewicht der Brennstoffzelle weit oben. Auch die Speicherung des Wasserstoffs stellt hohe Anforderungen an die Integration voluminöser Tanks in der Flugzeugstruktur.
Das DLR sieht in seiner Bestandsaufnahme für die nahe Zukunft der Luftfahrt mehrere Entwicklungspfade: Für Reisen innerhalb von Ballungsgebieten werden batterieelektrische Regionalflugzeuge zum Einsatz kommen. Kurz- und Mittelstrecken sind die Domäne von Luftfahrzeugen auf der Basis von Brennstoffzellen, während auf der Langstrecke vorerst neue Gasturbinenkonzepte in Verbindung mit nachhaltigen Kraftstoffen dominieren. Perspektivisch sind hier aber auch Wasserstoff- und Brennstoffzellenantriebe denkbar.
Startups heben mit mutigen und spektakulären Flugprojekten vom Boden ab
Der Umbruch der Luftfahrt spielt sich in einer Größenordnung ab, die sich kaum überschätzen lässt. Gleichzeitig setzt er kreative Kräfte frei. Die international tätige Unternehmensberatung Roland Berger analysiert in einem Marktbericht vom September 2021, dass es zu Beginn dieses Jahres rund um den Globus mehr als 280 Luftfahrtprojekte mit alternativen Antrieben gab. Rund 85 Prozent davon seien in Europa und Nordamerika durchgeführt worden. Auch heute noch herrscht in der Branche Goldgräberstimmung. Vor allem in der Urban Air Mobility heben mutige Projekte vom Boden ab, an denen Flugpioniere wie Otto Lilienthal oder die Gebrüder Wright ihre Freude gehabt hätte. Ein Player in diesem Feld ist zum Beispiel das kalifornische Startup Archer, das Mitte 2021 den Prototyp eines Elektro-Senkrechtstarters mit zwölf Propellern für Auftrieb und Vortrieb vorgestellt hat. An Bord des „Maker“ befinden sich sechs Akkus für eine Reichweite von 100 Kilometern. Das israelische Luftfahrtunternehmen Eviation Aircraft glaubt für den Regionalflugverkehr den Stein der Weisen bereits gefunden zu haben – voraussichtlich noch in der ersten Hälfte dieses Jahres soll ein batterieelektrischer Antrieb in die Luft gehen. Das Startup Wright Electric aus Kalifornien plant im gleichen Segment die Entwicklung eines vollelektrischen Antriebsstrangs auf Basis von Wasserstoff-Brennstoffzellen oder Aluminium-Brennstoffzellen, der für eine Reichweite von rund 740 Kilometern ausgelegt werden soll. Der Branchenriese Airbus wiederum setzt für die Langstrecke auf Wasserstoff. In Frage kommt die direkte Verbrennung, aber auch die Verwendung in einer Brennstoffzellen-Technologie. Die Entscheidung über das am besten geeignete System soll bis 2025 fallen.
Erste innereuropäische Flüge mit dem Wasserstoff-Flugzeug HY4 in zehn Jahren
Den erfolgreichen Erstflug mit einem Wasserstoffflugzeug darf sich das Projekt HY4 ans Revers heften. Dahinter steht unter anderem die geballte Expertise des DLR und der Universität Ulm, die den Viersitzer mit Brennstoffzellenantrieb 2016 an den Start gebracht haben. Das rund 7,50 Meter lange Fluggerät mit Doppelrumpf besitzt eine Spannweite von rund 21 Metern und kann einen Piloten und drei Passagiere befördern. Den Schub besorgt ein 80 Kilowatt starker Elektromotor, der den Propeller des Flugzeugs antreibt. Lithium-Polymer-Akkus stellen bei Start und Landung zusätzlichen Energie bereit. Die neueste Generation des HY4 kommt auf rund 750 Flugkilometer und erreicht eine Top-Geschwindigkeit von 200 Kilometern pro Stunde. Auch eine Erlaubnis für europaweite Testflüge ist mittlerweile vorhanden. In zehn Jahren sollen laut DLR mit dem Wasserstoff-Flieger innereuropäische Flüge mit bis zu 2.000 Kilometern Länge möglich sein.
DLR baut emissionsfreien Technologieträger Do 228 als Forschungsflugzeug
Das DLR macht jetzt mit einem neuen Forschungsflugzeug den nächsten Schritt in Sachen emissionsfreies Fliegen. Mitte November 2021 hat das Luftfahrtunternehmen General Atomics AeroTec Systems eine Dornier „Do 228“ an das DLR übergeben, die in den nächsten Jahren am Standort Oberpfaffenhofen zum Technologieträger ausgebaut werden soll. Partner ist auch der der Triebwerkshersteller MTU, der die Entwicklung des für Flüssigwasserstoff ausgelegten Antriebsstrangs übernimmt. Wie es heißt, sollen die Brennstoffzellen im Rumpf untergebracht werden, wo sich auch der Wasserstoff-Tank befindet. Im ersten Schritt soll einer der beiden konventionellen Antriebsstränge der Dornier durch einen elektrischen 600-kW-Antriebsstrang ersetzt werden. Dieser Antrieb soll bis 2025 entwickelt und anschließend unter realen Betriebsbedingungen getestet werden.
Harbour Air plant elektrische Verkehrsflieger auf Basis der DHC-2 Beaver
Die kanadische Wasserflug-Airline Harbour Air verfügt in ihrer rund 40 Einheiten starken Flotte wohl über das erste rein elektrische Verkehrsflugzeug der Welt. Dabei handelt es sich um ein umgebautes sechssitziges Wasserflugzeug vom Typ DHC-2 des kanadischen Flugzeugherstellers De Havilland of Canada mit einem batterieelektrischen Antrieb. Der Erstflug in der Nähe von Vancouver Ende 2019 soll problemlos verlaufen sein. Der 560 Kilowatt starke Elektromotor stammt vom US-Unternehmen Magnix. Mit den installierten Batterien soll die Beaver eine Reichweite von mehr als 160 Kilometern erreichen. Bis heute laufen umfangreiche Tests mit dem Prototyp, die Daten zum Flugverhalten und Flugbetrieb liefern. Mittlerweile firmiert neben Magnix auch der Schweizer Batteriehersteller H55 als Partner von Harbour Air. Geplant ist, noch in diesem Jahr eine Zertifizierung des elektrischen Antriebs und des Batteriesystems zu erhalten. In der Folge würde Harbour Air seine komplette Flotte auf elektrischen Antrieb umstellen.
Der Demonstrator Cassio 1 von Voltaero fliegt mit einem Hybridmodul
Das französische Luftfahrtunternehmen Voltaero schreibt sich die Entwicklung eines hocheffizienten Flugzeugs für vier bis neun Personen im Reise- und Pendlerverkehr auf die Fahnen. Der aktuelle Demonstrator für das Projekt Cassio 1 basiert auf einer Cessna 337 Skymaster und hat laut Hersteller bereits über 40 Testflüge erfolgreich abgeschlossen. Im Mittelpunkt des Antriebskonzepts steht ein von Voltaero entwickeltes Antriebsmodul, das einen 300 Kilowatt starken Verbrennungsmotor mit drei elektrischen Motoren mit jeweils 60 Kilowatt in einer einzigen Einheit kombiniert. Der Verbrenner hat in diesem hybriden Konzept zwei Aufgaben. Er dient im Reiseflug als Range Extender, der die Pufferbatterien wieder auflädt. Darüber hinaus treibt er bei Bedarf einen Schubpropeller an, der in speziellen Flugsituationen zusätzlich zum Einsatz kommt. Wie es heißt, zeigen die bisherigen Testflüge – zuletzt Mitte Dezember 2021 ein Überflug des Ärmelkanals von Calais ins britische Bedfordshire –, dass die Motoren im rein elektrischen Modus einen sicheren und effizienten Flugbetrieb ermöglichen. Zudem könnten in diesem Modus nahezu geräuschlose Starts und Landungen stattfinden. Der hybride Antrieb soll bis zu 3,5 Flugstunden ermöglichen und gegenüber einer herkömmlichen Maschine des gleichen Typs unter guten Bedingungen bis zu 50 Prozent Kraftstoff einsparen.
Rolls Royce und Tecnam entwickeln Hybridmodul für Elektroflugzeuge in Norwegen
Norwegen macht im regionalen Flugverkehr Nägel mit Köpfen: bis 2040 sollen alle Flüge, die kürzer als anderthalb Stunden dauern und im Land starten, nur noch von Elektroflugzeugen durchgeführt werden. Die dafür nötige Hardware will die Regionalfluggesellschaft Widerøe gemeinsam mit Triebwerksentwickler Rolls Royce und dem auf Leichtflugzeuge spezialisierten Unternehmen Tecnam aus Italien realisieren. Der im gemeinsamen Forschungsprogramm eingesetzte Erprobungsflieger „P-Volt“ basiert auf der elfsitzigen Tecnam P2012 Traveller mit zwei Motoren. Bei dem Antrieb handelt es sich um das hybrid-elektrische Antriebssystem H3PS, das Rolls Royce bereits seit 2018 zusammen mit dem österreichischen Motorenhersteller Rotax entwickelt und das seit 2020 im Versuchsträger zum Einsatz kommt. Wie es bei Rolls Royce heißt, ist das System ein paralleler Hybrid – Verbrennungsmotor und Elektromotor können demnach jeweils eigenständig den Propeller antreiben. Möglich ist aber auch eine Arbeitsteilung, bei der die elektrische Komponente zusätzliche Leistung bereitstellt. Das E-Flugzeug soll 2026 bei Widerøe in Betrieb gehen.
Eviation Aircraft schreibt mit batterieelektrischer „Alice“ Luftfahrtgeschichte
Das israelische Luftfahrtunternehmen Eviation Aircraft könnte demnächst mit „Alice“ Luftfahrtgeschichte schreiben. 2019 auf der Pariser Luftfahrtschau vorgestellt, ist Alice laut Hersteller das erste Flugzeug mit einer elektronischen Flugsteuerung, das von Anfang an auf einen elektrischen Antrieb ausgelegt ist. Nach erfolgreichen Motortests im Januar am Arlington Municipal Airport in der Nähe von Seattle soll Alice voraussichtlich noch in der ersten Jahreshälfte 2022 zum Erstflug abheben. Ein spektakuläres Alleinstellungsmerkmal ist der rein batterieelektrische Antrieb. An Bord ist ein rund 3.720 Kilogramm schwerer Lithium-Ionen Batteriesatz mit 820 kW/h Kapazität. Die Akkus sollen sich innerhalb von 30 Minuten komplett laden lassen. Den Vortrieb besorgen zwei 640 Kilowatt starke Elektromotoren mit fünfblättrigen Zugpropellern am Heck. Die technischen Daten für Alice weisen eine Reichweite von bis zu 815 Kilometern, eine Maximalgeschwindigkeit von etwa 460 km/h sowie eine maximale Nutzlast von 1.200 Kilogramm aus. Eviation Aircraft plant drei Versionen von Alice: ein Zubringerflugzeug für neun Passagiere, ein exklusives Geschäftsreiseflugzeug sowie eine Cargoversion. Die Express Division der Deutsche Post DHL Group hat bereits zwölf Cargo-Einheiten bestellt, die 2024 zur Auslieferung anstehen.
Airbus plant bis 2025 einen Riesenjet als Forschungsflugzeug für Wasserstoff
Airbus stellt gerade die technologischen Weichen, um mit großen Jets auch auf langen Strecken ohne Emissionen zu fliegen. Mitte Februar hat der Konzern verkündet, dass ein Airbus A 380 als Versuchsträger für einen Wasserstoffantrieb ausgerüstet werden soll. Damit bringt Airbus seine Anfang 2020 unter dem Namen „ZEROe“ gestartete Wasserstoff-Initiative auf das nächste Level. Den Auftakt macht eine Kooperation mit dem Triebwerksbauer CFM, der zu Safran aus Frankreich und General Electric (GE) aus den USA gehört. Konkret soll jetzt ein Airbus A380 mit einem Wasserstofftank und einem Zusatztriebwerk ausgestattet werden. Dieses ist als wasserstoffbetriebener Direktverbrennungsmotor angelegt, der am hinteren oberen Rumpfteil des Fliegers montiert wird. In der ersten Phase steht Grundlagenforschung auf der Agenda. So sollen zum Beispiel die Emissionen des Zusatztriebwerks separat gemessen und mit denen der regulären Triebwerke verglichen werden. Bis Mitte des Jahrzehnts soll das Demonstrationsflugzeug startklar sein. Bereits 2035 will Airbus das erste Flugzeug mit Wasserstoffantrieb im Passagierverkehr starten.