Mikro-Mobilität auf dem Vormarsch
Author: Hannes Rügheimer
Taxi-Konkurrenz per Ridesharing und Carsharing, Kurzstrecken-Mobilität per E-Scooter oder Fahrrad – sogenannte Mikro-Mobilitäts-Dienste gelten als wichtiger Baustein der Mobilitätswende. Vor allem Großstädte versprechen sich von ihnen weniger Verkehrs- und Parkprobleme, bessere Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs – und somit insgesamt geringere CO2-Ausstöße.
Auch wenn in mancher Hinsicht – etwa bei Nutzung und tatsächlichem Nutzen von E-Scootern – schon wieder ein wenig Ernüchterung eingekehrt ist: Mobilitätsexperten sind überzeugt, dass es ohne innovative Mobilitätsdienste in Zukunft nicht gehen wird. Laut einer Studie des Oliver Wyman Forums in Kooperation mit dem Institute of Transportation Studies (ITS) der University of California, Berkeley, sollen städtische Mobilitätsoptionen wie Ride-Sharing, E-Scooter, Ladestationen für Elektrofahrzeuge und intelligente Park-Apps bis 2030 in Nordamerika, Europa und Asien einen Umsatz von mehr als 660 Milliarden Euro generieren. Ihnen allen ist gemein, dass sie bedarfsgesteuert, gemeinsam genutzt und idealerweise mit grünem Strom betrieben werden. Schon heute stellen laut der Studie solche städtischen Mobilitätsoptionen global einen Marktwert von 260 Milliarden Euro dar.
Starke Nachfrage vor allem nach Ridesharing
Eine in vielen Ländern schon sehr große Bedeutung hat bereits das sogenannte Ridesharing erzielt. Im Gegensatz zum Carpooling, bei dem sich mehrere Passagiere die Kosten eines konventionellen Transports wie einer Taxi- oder Shuttle-Fahrt untereinander teilen, ist beim Ridesharing ein Vermittler zwischengeschaltet, der Fahrgäste und Fahrer zusammenbringt. Dies geschieht in der Regel per App. Ob die Fahrer Befähigungsnachweise erbringen und ihre Fahrzeuge speziellen Prüfungen unterziehen lassen müssen, unterscheidet sich von Land zu Land. Ausgehend von den in dieser Hinsicht besonders vorschriftsarmen USA haben etwa die Anbieter Uber und Lyft ihr Geschäftsmodell in viele Länder exportiert.
Im eher regulierungsfreundlichen Deutschland brauchte es eine Überarbeitung des Personenbeförderungsgesetzes, bevor die Dienste dort legal operieren durften. Aber auch Schwergewichte, die traditionell in anderen Bereichen der Mobilität aktiv waren, haben ihr Angebot auf Sharing-Modelle ausgeweitet – ein Beispiel ist der Autovermieter Sixt, der mittlerweile auch Ridesharing, Carsharing oder E-Roller anbietet. Dass der Markt für Mobilitätsdienstleistungen kein Selbstläufer ist, zeigt allerdings auch das Beispiel der Carsharing-Plattformen Car2Go (ehemals von Daimler gegründet) und DriveNow (ehemals BMW). Sie traten seit 2019 als gemeinsamer Anbieter ShareNow auf, der das gesamte Geschäft 2022 dann an den Stellantis-Konzern (mit Marken wie Citroën, Fiat, Opel oder Peugeot) abgetreten hat.
Doch speziell im Bereich Ridesharing gibt es noch viele weitere Vermittler, die dieses Mobilitätsmodell in unterschiedlichen Ländern anbieten – beispielsweise die in UK, Israel und Russland operierende Firma Gett, der in Australien, Indien, Japan und einigen asiatischen Ländern aktive Anbieter Grab oder der in Estland gegründete und mittlerweile in 33 Ländern aktive Anbieter Bolt. Letzterer ist im Übrigen auch als E-Scooter-Anbieter bekannt, sein Angebot umfasst aber auch private und geschäftliche Autotransfers sowie Essenslieferungen. Trotz finanzieller Unruhen nach dem Rückzug eines Equity-Investors war der letzte Stand im Spätherbst 2022, dass der Geschäftsbetrieb fortgeführt werden kann. Auf die Märkte Indonesien, Malaysia, Thailand, Philippinen, Vietnam und Singapur konzentriert sich wiederum der Anbieter Gojek. Er setzt auf eine Flotte von Motorrädern, deren Fahrer die jeweilige Landessprache plus Englisch sprechen.
Auf und ab bei E-Scootern
Auch bei den E-Scootern waren US-amerikanische Mikro-Mobilitätsdienstleister die Wegbereiter. So ist die US-Firma Lime heute unter anderem in Kanada, Mexiko, Australien, Neuseeland, Singapur, Deutschland und Österreich vertreten. In der Schweiz zählt das Unternehmen zu den Gründungsmitgliedern der dort aktiven Swiss Alliance for Collaborative Mobility (kurz CHACOMO). Das Grundprinzip ist überall dasselbe: Nach Anmeldung und Hinterlegung einer Bezahlmethode kann der Fahrer per App einen freien Scooter suchen, mieten, und schließlich am Ende der Fahrt abstellen und die Miete beenden.
Allerdings zeigt die bisherige Historie der E-Scooter-Anbieter, dass ihr Geschäftsmodell nicht überall gleich gut funktioniert. So hat Lime sein Angebot in verschiedenen süd- und mittelamerikanischen Ländern sowie den US-Metropolen Atlanta, Phoenix und San Diego schon wieder eingestellt. Der ebenfalls auf dem US-Markt starke E-Scooter-Anbieter Bird konzentriert sich auf rund 50 US-Großstädte und ist daneben an Orten wie Tel Aviv, Santiago de Chile und in mehreren europäischen Städten von Berlin bis Lissabon und von Barcelona bis Stockholm aktiv.
Der in Europa derzeit größte E-Scooter-Anbieter ist allerdings Voi aus Schweden. Vertreten ist das Unternehmen neben dem Heimatmarkt etwa auch in Norwegen, Finnland, Dänemark, Deutschland, Österreich, Italien, Spanien, Belgien, den Niederlanden, sowie Großbritannien. In der Schweiz hat es sich ebenfalls der CHACOMO-Allianz angeschlossen.
Der Markt für E-Scooter ist allerdings gleichermaßen schnell wie volatil. So wurde in den letzten drei Jahren das Start-up Circ vom Konkurrenten Bird übernommen, die E-Roller der ehemaligen Uber-Tochter Jump gehören nun zu Lime. Der Anbieter Spin, der seinerseits 2018 vom Autogiganten Ford übernommen wurde, hat sich nach kurzem Gastspiel aus Deutschland, Spanien und Portugal zurückgezogen, bleibt aber in den USA, Kanada und dem Vereinigten Königreich aktiv.
Auch Bikesharing nimmt an Bedeutung zu
Neben dem E-Roller-Sharing ist auch der Verleih von Fahrrädern ein wichtiger Baustein der Mikro-Mobilität. Laut dem Statista Mobility Market Outlook führen nach Marktvolumen in diesem Bereich China (2,9 Milliarden US-Dollar) und Indien (700 Millionen US-Dollar). Die beiden größten chinesischen Anbieter sind die Firmen Mobike und Ofo, die zusammen rund 90 Prozent Marktanteil erreichen. Die Platzhirsche in Indien heißen Ola Pedal, Yulu und Zoomcar PEDL. Den dritten Platz nehmen die USA mit 280 Millionen US-Dollar ein. Hier ist der Lime-Ableger LimeBike der größte Anbieter.
Blickt man auf die erwarteten Wachstumsraten, bleibt China auf Platz eins – hier soll das jährliche Wachstum bis 2025 rund 14 Prozent betragen. Einen großen Nachholbedarf attestiert die Statistik allerdings auch Europa mit rund 8 Prozent pro Jahr. Nach Einzelländern liegen hier vor allem Deutschland, Italien, Spanien und Großbritannien vorn. Neben einigen Branchengrößen wie Nextbike (Deutschland, Österreich, Polen, Tschechien und andere), Vélib’ (Frankreich) oder der Deutsche-Bahn-Tochter Call-a-bike in Deutschland ist der europäische Markt allerdings von vielen kleineren Anbietern gekennzeichnet, die sich auf eine oder wenige Städte konzentrieren und dort häufig auch mit den Kommunen oder anderen Partnern zusammenarbeiten.
Die Beispiele zeigen: Trotz gelegentlicher Rückschläge sehen viele Anbieter in Mikro-Mobilitäts-Dienste ihre Zukunft – und die ihrer Nutzer. Deutliche Wachstumsraten und ein zunehmender Wettbewerb belegen klar: Ohne Mikro-Mobilität wird es vor allem in dicht besiedelten Großstädten in Zukunft nicht gehen.
Standard für sichere Mikro-Mobilität
Ein internationales Team aus DEKRA Experten hat einen Standard für sichere Mikro-Mobilität entwickelt. Der ganzheitliche Ansatz für Sicherheit und Nachhaltigkeit rund um E-Scooter und Co. richtet sich zum einen an Anbieter – zum Beispiel Verleiher von E-Scootern –, zum anderen an Städte, in deren Verkehrsraum entsprechende Verleihsysteme angeboten werden. Das Prüfverfahren umfasst mehr als 120 einzelne Prüfpunkte aus Bereichen wie technisches Design, Sicherheit und Datenschutz, Bereitstellung, Wartung und Lager und weiteren. Die Experten von DEKRA Digital nehmen diese Punkte detailliert unter die Lupe und berücksichtigen dabei auch lokale gesetzliche Vorgaben. Denn die aktuellen Sicherheitsstandards und Regeln für die Nutzung neuer Mobilitätsangebote unterscheiden sich nicht nur von Land zu Land, sondern oftmals sogar von Stadt zu Stadt.
„Das Thema Micro Mobility ist in Städten rund um den Globus hoch aktuell und wird in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen. Als globaler Partner für eine sichere Welt wollen wir deshalb unseren Sachverstand und neutrale Expertise für mehr Sicherheit und Nachhaltigkeit bei neuen Mobilitätskonzepten einbringen“, erklärt dazu Dr. Kerim Galal, Geschäftsführer der DEKRA Digital GmbH. Nach dem Micro-Mobility-Standard zertifiziert wurden beispielsweise schon die E-Scooter-Anbieter Voi, Spin und Tier.
Weiterführende Informationen finden sich unter
https://dekra.digital/de/micro-mobility-standard-de/#/360.