Maximal komplexe Testszenarien
Author: Matthias Gaul
Im Rahmen des Forschungsprojekts LAURIN werden auf dem DEKRA Lausitzring reale Unfallkonstellationen beliebig oft rekonstruiert. Entwickler der Automobil- und Zulieferindustrie können damit die Wirksamkeit von Assistenzsystemen und automatisierten Fahrfunktionen auch in kritischen Verkehrssituationen immer weiter optimieren. Nach etwas mehr als eineinhalb Jahren fällt die Halbzeitbilanz des Projekts sehr positiv aus.
Ob automatisches Spurhalten, den umgebenden Verkehrsbedingungen angepasstes Beschleunigen und Bremsen, Notbremsungen etwa am Stauende oder automatisierte Vollbremsungen beim Rechtsabbiegen, um nur ein paar Beispiele zu nennen: Fahrerassistenzsysteme können kritische Verkehrssituationen frühzeitig erkennen, vor Gefahren warnen und im Bedarfsfall auch aktiv in das Geschehen eingreifen. Automatisierte Fahrfunktionen sollen künftig dem Fahrer erlauben, sich während der Fahrt anderen Dingen zuzuwenden. Vor der Zulassung respektive Serienfertigung müssen die jeweiligen Systeme aber ausgiebig auf Herz und Nieren geprüft und evaluiert werden, um sicherzustellen, dass sie jederzeit bestmöglich funktionieren. Und genau das erfolgt unter anderem im DEKRA Technology Center am Lausitzring im brandenburgischen Klettwitz. Die Besonderheit des mit 540 Hektar europaweit größten Testgeländes für automatisiertes und vernetztes Fahren liegt dabei unter anderem in der Reproduzierbarkeit nahezu aller Szenarien. Soll heißen: Die Systeme und Funktionen lassen sich unter jeweils gleichen Bedingungen beliebig oft testen.
Zu diesem Zweck hat DEKRA im Rahmen des im Mai 2022 gestarteten und auf drei Jahre angelegten Forschungsprojekts LAURIN mehrere Teststrecken am Lausitzring über einen 3D-Laserscan digitalisieren lassen. Eine flexible Anpassung der Streckengestaltung beispielsweise durch bedarfsgerechte Fahrbahnmarkierungen und Verkehrszeichen kann mittels Drohnenbefliegung innerhalb weniger Stunden mit diesen hochgenauen Daten kombiniert werden. Somit steht zur konkreten Planung von Versuchen für die Absicherung von Funktionen des hochautomatisierten Fahrens jederzeit ein aktualisierter digitaler Zwilling der Teststrecken zur Verfügung. Konsortialführer von LAURIN ist DEKRA, weitere beteiligte Partner sind das Fraunhofer-Institut für Verkehrs- und Infrastruktursysteme IVI sowie iMAR Navigation, Smart Mobile Labs und TraceTronic. Das rund 4,2 Millionen Euro teure Projekt wird im Rahmen der Innovationsoffensive mFUND mit insgesamt 2,45 Millionen Euro vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr gefördert.
Schwarmtests in der Realität und im digitalen Zwilling
Wie schon angedeutet, ist es ein wesentlicher Bestandteil des Projekts, praktisch jede reale Straßensituation beziehungsweise jedes beliebige Szenario auf den Teststrecken am DEKRA Lausitzring abbilden zu können. Basis dafür ist die vorhandene Vielfalt an Strecken, allen voran die im vergangenen Sommer eröffneten neuen flexiblen Citykurse. Eine zentrale Grundlage bildet außerdem das vom Fraunhofer-Institut IVI detailliert aufbereitete, polizeilich erfasste Unfallgeschehen in Deutschland seit dem Jahr 2018. Die Abläufe auf dem Lausitzring können dabei in hohem Maß automatisiert werden und bilden ihrerseits wiederum die Grundlage für das Testen künftiger Funktionen der so genannten kooperativen vernetzten und automatisierten Mobilität. „Ein Beispiel dafür wäre, wie in Zukunft auch Infrastruktureinrichtungen wie eine Ampel in das Szenario mit eingebunden wird und Informationen an Fahrzeuge oder andere Verkehrsteilnehmer sendet – etwa über Ampelphasen oder über Objekte, die per Sensorik in der Infrastruktur erkannt wurden“, erläutert Konsortialleiter Felix Kocksch, der bei der DEKRA Automobil GmbH im Bereich Testing ADAS auf dem Lausitzring verantwortlich ist für Förderprojekte.
Neben den Teststrecken bildet die Testmethodik des Schwarmtests das zweite wesentliche Standbein des Forschungsprojekts LAURIN. Die verschiedenen Szenarien können dabei sowohl in Wirklichkeit als auch mit dem digitalen Zwilling des Testgeländes durchgeführt werden. Dank der Software des Projektpartners TraceTronic lassen sich die Manöver der bewegten Objekte bequem in der Simulation erstellen. „Das eröffnet uns optimale Möglichkeiten, die realen Tests mit virtuellen Versuchen gegenüberzustellen und direkt vergleichbar zu machen“, sagt Felix Kocksch. Ein weiterer wichtiger Baustein für das szenarienbasierte Testen im Schwarm ist das 5G-Campus-Netz. Schon heute werden große Bereiche des Testgeländes am DEKRA Lausitzring mit einem privaten 5G-Netz abgedeckt; der weitere Ausbau läuft. Projektpartner Smart Mobile Labs arbeitet an der anforderungsgerechten Konfiguration der 5G-Infrastruktur.
Punktgenaue Objektsteuerung
Wie all dies zusammenspielt, wurde bei der Halbzeitbilanz des Projekts im Rahmen der Veranstaltung „The ADAS Experience“ der carhs GmbH Ende September 2023 mit einem Schwarmtest mit sechs Beteiligten vorgeführt. Darunter war zunächst das so genannte „Vehicle under test“, also das zu testende Fahrzeug mit modernen Assistenzsystemen. Hinzu kamen zwei von Fahrrobotern gesteuerte Serienfahrzeuge, ein Fahrzeug, dessen Aktuatorik über elektronische Signale ferngesteuert wird, sowie zwei überfahrbare Plattformen, die mit Soft Targets einen weiteren Pkw sowie einen Radfahrer simulierten. „Das Zusammenspiel aus bewegten Objekten im Testszenario punktgenau zu steuern und damit reproduzierbar zu machen, ist dabei die große Herausforderung und wir haben im Projekt gezeigt, dass es funktioniert“, so Felix Kocksch. Hierfür entwickelt Projektpartner iMAR seine Leitstandlösung weiter, die bereits genutzt wird, um alle Objekte zentral zu orchestrieren und zu überwachen. Ziel ist es, die Methoden, die im Projekt LAURIN erprobt werden, letztlich auf Schwärme mit bis zu zwölf Objekten anwenden zu können.
Drei Fragen an Felix Kocksch, DEKRA Konsortialleiter beim Forschungsprojekt LAURIN
Welche waren seinerzeit die wesentlichen Beweggründe, das Forschungsprojekt auf die Beine zu stellen?
Um seitens DEKRA auch im Zuge der erwarteten Automatisierung von Fahrzeugen weiterhin einen Beitrag zur Verkehrssicherheit leisten zu können, wurde ein Bedarf an neuen Prüfmethoden für künftige Fahrfunktionen erkannt. Die Entwicklung derartiger Prüfmethoden ist eine sehr komplexe Aufgabe, da die Expertise verschiedener Fachbereiche zu kombinieren ist. Daher hat DEKRA alle nötigen Kompetenzen in Form der Projektpartner zu einem Konsortium zusammengeschlossen, um sich – unterstützt durch Fördermittel – gemeinsam dieser Aufgabe zu stellen.
Welcher Mehrwert ist mit dem Projekt für die Weiterentwicklung von Systemen des automatisierten Fahrens verbunden?
Der Mehrwert liegt primär in der Sicherheit der Systeme, denn diese lässt sich erst durch Methoden, wie sie im Projekt entwickelt werden, zuverlässig überprüfen. Das reibungslose Zusammenspiel von Prüfgelände, Kommunikation, Leitstand, Infrastruktur und der einzelnen automatisierten Verkehrsteilnehmer – sowohl digital als auch in Realität – wird die Grundlage für einen reproduzierbaren Absicherungsprozess bilden. Erst dadurch wird es wirtschaftlich möglich, zuverlässig die notwendige Anzahl an Tests durchzuführen, die erforderlich sind, um einer Fahrfunktion ihre Sicherheit zu bescheinigen.
Wie geht es in der zweiten Projekthälfte weiter und was passiert nach dem Ende von LAURIN mit den gewonnenen Erkenntnissen?
Im weiteren Verlauf des Forschungsprojekts geht es jetzt darum, die bisher erarbeiteten einzelnen Bestandteile weiter miteinander zu verknüpfen und in ein integriertes Gesamtkonzept zu überführen – quasi als Grundlage, um künftig im alltäglichen Versuchsbetrieb die hochkomplexen Tests zur Absicherung des automatisierten Fahrens durchführen zu können. Nach Abschluss des Projekts werden die Partner ihre jeweiligen Ergebnisse aus diesem Forschungsprojekt zu industriell nutzbaren Produkten weiterentwickeln. Außerdem ist vorgesehen, die wesentlichen Erkenntnisse in einem dann zeitnah veröffentlichten Abschlussbericht zusammenzufassen.