Intelligente Verkehrssysteme: Alle zusammen
Author: Joachim Geiger
Die Verkehrssysteme in der gesamten EU sollen sicherer, nachhaltiger und intelligenter werden. Die hohe Kunst der europäischen Gesetzgebung besteht jetzt darin, die Mitgliedsstaaten der Union für ein einheitliches Verkehrssystem unter einen Hut zu bringen. Das Mittel zum Zweck ist eine neue Richtlinie, die klare Regeln aufstellen soll.
Die Transformation des europäischen Verkehrssystems durch intelligente Verkehrssysteme (IVS) hin zu einer effizienten, sicheren, nachhaltigen, intelligenten und resilienten Mobilität geht gerade in die nächste Runde. Mit der brandneuen „Richtlinie (EU) 2023/2661 zur Änderung der Richtlinie 2010/40/EU“ vom 22. November 2023 will die EU Kommission dem Engagement zur Transformation für ein einheitliches Verkehrssystem in Europa neues Leben einhauchen und neuen Technologien einen kräftigen Anschub geben. Tatsächlich sind intelligente Verkehrssysteme und Dienste in den meisten Mitgliedsstaaten der EU bereits auf dem Vormarsch, allerdings kochen viele Länder bei Einführung und Umsetzung ihr eigenes Süppchen. Auch im Hinblick auf Datenverfügbarkeit, Datenzugang und Austausch von Daten im europäischen Mobilitätsdatenraum liegt noch vieles im Argen. Brechen jetzt also mit der brandneuen Richtlinie goldene Zeiten im europäischen Verkehrsmanagement an?
Die Gestaltung einer modernen Mobilität erfordert gigantische Datenmengen
„Die neue Richtlinie steht für ein klares Bekenntnis zu einer vernetzten, kooperativen, multimodalen und automatisierten Mobilität“, weiß Thomas Jäger, Senior Vice President Global Connectivity Technologies bei DEKRA. Eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung spielt die Sammlung und Verarbeitung von Daten – allein in den Bereichen Mobilität, Verkehr und Logistik sind gigantische Datenmengen gefragt. Im Prinzip muss jeder Mitgliedsstaat der Union eigene Datenbanken aufsetzen, die über die Straßen- und Verkehrsverhältnisse im jeweiligen Land Auskunft geben. Das betrifft etwa Zufahrtsbedingungen für Tunnel und Brücken über Tempolimits und Überholverbote für Lastkraftwagen. Dazu kommen Infos zu Straßeninfrastrukturen wie Einbahnstraßen und Lieferverkehrsbestimmungen, Informationen über Sperrungen von Straßen und Fahrstreifen, Straßenbaustellen und Verkehrsmanagementmaßnahmen sowie freie Stellplätze für Lkw auf Autobahnen. In der Kategorie der sicherheitsrelevanten Ereignisse sind dynamische Daten gefragt, etwa zu Personen und Hindernissen auf Fahrbahnen, ungesicherten Unfallstellen und Falschfahrern.
Verfügbarkeit und Authentizität der Daten sind entscheidende Stellgrößen
Die Vorgaben der Richtlinie betreffen nicht nur das Sammeln der Daten. Es gibt auch eine Verpflichtung zu einem einheitlichen Handling, wenn ein Land die relevanten Daten in digitaler Form bereitstellt. Konkret geht es in diesem Fall darum, dass der Datenaustausch innerhalb der Union in maschinenlesbaren Formaten erfolgen muss. Auch der Datenschutz und der Schutz der Privatsphäre haben eine hohe Priorität. „Die Frage, wer unter welchen Bedingungen Zugriff auf welche Daten hat, wird ein entscheidender Faktor für die Gestaltung der Mobilität von morgen sein“, sagt DEKRA Experte Thomas Jäger. Am besten illustrieren lässt sich die Relevanz der Daten mit Blick auf die Funktion und Wirkungsweise digitaler Verkehrssysteme, die reibungslose Verkehrsströme und einen nachhaltigen Verkehr ermöglichen sollen. Wenn Fahrzeuge und Infrastruktur jeweils untereinander und miteinander kommunizieren, hängt hier wie dort die Effizienz und Sicherheit der Systeme von der Verarbeitung der Informationen über Fahrzeugpositionen, Geschwindigkeit und Fahrtrichtung der detektierten Fahrzeuge ab. Logisch auch, dass diese Abhängigkeit mit einem höheren Automatisierungsgrad weiter zunimmt. An diesem Punkt kommt die Qualität der Daten ins Spiel: „Die Systeme können nur dann sicher arbeiten, wenn die Zuverlässigkeit, Genauigkeit und Verfügbarkeit der Informationen gewährleistet ist. Fehlt es dagegen an der nötigen Authentizität und Integrität der Daten, kann das schwerwiegende Auswirkungen auf die Sicherheit des Straßenverkehrs haben“, erklärt Thomas Jäger.
Zur Umsetzung sieht der EU Gesetzgeber vier Bereiche mit hoher Priorität vor
Und wohin geht jetzt die Reise in Sachen Intelligente Verkehrssysteme (IVS)? Es ist sonnenklar, dass die Daten und die entsprechenden Dienste nicht von heute auf morgen im transeuropäischen Straßennetz, auf anderen Autobahnen und Fernstraßen sowie in Großstädten verfügbar sein können. Die Richtlinie sieht daher eine pragmatische Lösung vor. Ihre Spezifikationen und Normen sollen mit Hochdruck zuerst in vier vorrangigen Bereichen umgesetzt werden. Zur Disposition stehen demnach die Sparten Information und Mobilität, Reise-, Transport- und Verkehrsmanagement, Straßenverkehrssicherheit sowie vernetzte und automatisierte Mobilität. Jetzt liegt der Ball im Feld der europäischen Mitgliedsstaaten. Bis zum 21. März 2025 müssen sie der EU Kommission gegenüber Rechenschaft ablegen, wie sie die Durchführung der Richtlinie voranbringen wollen.
Thomas Jäger ist Senior Vice President Global Connectivity Technologies bei DEKRA.
Die neue EU Richtlinie schreibt sich die Gestaltung eines einheitlichen und digitalen europäischen Verkehrssystems auf die Fahnen. Welche Rolle hat dabei die Expertenorganisation DEKRA gespielt?
Jäger: DEKRA bündelt viele Themen, in denen es um intelligente Transportsysteme geht. Daher engagieren wir uns auch als Mitglied bei der öffentlich-privaten Partnerschaftsorganisation ERTICO – ITS Europe in Brüssel, die sich seit über 30 Jahren mit der Entwicklung von Standards im Transportwesen befasst. DEKRA bringt hier umfassendes Knowhow u.a. in den Bereichen Verkehrssicherheit, Automatisierung, eMobility, Konnektivität, Big Data, Cyber Security, Artificial Intelligence (AI), Nachhaltigkeit und Functional Safety ein. Ich selbst bin seit zweieinhalb Jahren im Board von ITS Europe und seit Sommer 2023 Leiter der ITS-Strategiegruppe. ITS Europe hat den entscheidenden Vorteil, dass man sehr eng mit der Europäischen Kommission zusammenarbeitet und auch seitens der Politik als Beratungsinstitut für die EU gefragt ist. Insofern lässt sich sagen, dass die Expertise von DEKRA über ITS-Europe ein Stück weit in das gesetzgeberische Verfahren der EU eingegangen ist.
Sind sie denn mit der neuen Richtlinie zufrieden?
Jäger: Die Richtlinie ist zweifellos ein wesentlicher Schritt, der viele Mängel der alten Richtlinie aus dem Jahr 2010 beseitigt. Sie beschreibt den erweiterten Rahmen für die verschiedenen Handlungsfelder, die jetzt anstehen. In Bezug auf die Technologie zum Beispiel verfolgt die Gesetzgebung im Gegensatz zur ursprünglichen IVS-Richtlinie einen Ansatz, der den evolutionären Charakter von Technologie anerkennt. Jetzt kommt es vor allem auf die Umsetzung und Implementierung der Richtlinie an. Das wird allerdings kein leichtes Unterfangen – es erfordert auf europäischer Ebene, aber auch von den einzelnen Mitgliedsstaaten viel Aufwand und große Anstrengungen.
Stichwort Verkehrssicherheit. Wie stellt sich die Richtlinie zur Vernetzung im Straßenverkehr?
Jäger: Die Kombination der Konnektivitätstechnologie mit ADAS-Systemen kann zu einer deutlich erhöhten Verkehrssicherheit führen, wenn die Systeme künftig implementiert werden. Die Richtlinie unterstützt und ermöglicht ganz klar die Vernetzung in einem intelligenten Verkehrssystem. Ein konkretes Beispiel dafür ist die Kommunikation zwischen Fahrzeug und Infrastruktur. Hier bezieht die Richtlinie bewusst einen technologieneutralen Standpunkt. Kooperative intelligente Verkehrssysteme müssen daher nicht auf einem einzigen System basieren. Denkbar ist vielmehr, dass mehrere Systeme und Technologien bei der Umsetzung eine Rolle spielen – stets unter der Voraussetzung, dass die Technologien die Interoperabilität gewährleisten.