Digitale Innovationen mit Turbo-Effekt
Author: Joachim Geiger
Nach einem Hagelgewitter stehen manchmal tausende Autobesitzer wochenlang Schlange, um für ihr beschädigtes Fahrzeug einen Termin zur Sammelbesichtigung zu ergattern. Ärgerlich ist das, wenn das Auto nicht mehr fahrbereit ist. Diesem Engpass rückt jetzt DEKRA mit seinem digitalen Schadenmanagement zu Leibe.
„Mit unserem digitalen Schadenmanagement bieten wir Kraftfahrzeugversicherern abgestufte unabhängige Sachverständigendienstleistungen an, die ihre spezifischen Anforderungen gezielt abdecken“, erklärt Marcel Ott, Leiter Schadengutachten bei der DEKRA Automobil GmbH. Gut möglich, dass die Expertenorganisation mit diesem Angebot goldrichtig liegt. In den letzten Jahren haben Massenschäden durch Hagel, Starkregen und Sturm den Versicherern immer wieder schwer zu schaffen gemacht – allein 2023 musste die Branche rund 465.000 Schäden in Höhe von 1,3 Milliarden Euro regulieren. Logisch also, dass passgenaue und effiziente Lösungen zur Abwicklung der Schäden in der Teilkaskoversicherung von größtem Interesse sind. Wie aber könnte eine digitale Lösung – etwa nach einem schweren Hagelunwetter – aussehen? Im Sommer 2024 hat DEKRA gemeinsam mit einem Versicherer ein Pilotprojekt durchgeführt, das neue und innovative Prozesse in der Schadenregulierung etablieren könnte.
Belange der Fahrzeugbesitzer im Blick
„Wir haben uns in dem Projekt intensiv mit den Belangen der Fahrzeugbesitzer befasst“, berichtet Marcel Ott. Schließlich sind für sie die Folgen eines Hagelschadens in mehrfacher Hinsicht unbequem. Zwar übernimmt die Teilkaskoversicherung die Reparatur- oder Austauschkosten beschädigter Fahrzeugteile. Wenn aber bei einem Massenschaden tausende Fahrzeugbesitzer für einen Termin zur Sammelbesichtigung Schlange stehen, kann es mitunter fünf bis sechs Wochen dauern, bis ein Sachverständiger ein Fahrzeug unter die Lupe nehmen kann. „Bis dahin weiß der Versicherungsnehmer nicht, wie es um sein Fahrzeug steht – ob eine Reparatur möglich ist oder ob vielleicht ein Totalschaden vorliegt“, sagt Marcel Ott. Besonders problematisch sei dieser Engpass, wenn das Fahrzeug aufgrund der Schäden an den Scheiben nicht mehr fahrtüchtig ist. Zum wirtschaftlichen Schaden kommt dann der Verlust der eigenen Mobilität dazu.
Mit digitalen Ressourcen den Schadenprozess abbilden
„Wir haben uns überlegt, wie wir – abgesehen von der Begutachtung der Hagelschäden an den Karosserien – die Mobilität der Versicherungsnehmer am schnellsten wieder herstellen können“, schildert der DEKRA Experte die Prämissen für das Projekt. Aber wie soll man im Vorfeld präzise zwischen fahrbereiten und fahruntüchtigen Fahrzeugen unterscheiden? Eine Begutachtung der Sachverständigen vor Ort scheidet bei der Fülle der Schadenmeldungen aus. An diesem Punkt kommen die digitalen Ressourcen der Prüforganisation ins Spiel. Konkret handelt es sich dabei um eine hochkomplexe Software, mit der sich alle Prozesse zur Abwicklung von Fahrzeugschäden – von der Schadenmeldung bis hin zur Regulierung des Schadens – abbilden lassen. Herzstück des Programms ist eine Künstliche Intelligenz, die auf einen riesigen Datenbestand von realen Unfallschäden und Schadengutachten Zugang besitzt. Zudem fließen in den Analyseprozess Informationen aus der detaillierten Fahrzeugidentifikation und einer tagesaktuellen Fahrzeugbewertung mit ein.
Mit KI den Hagelschaden am Fahrzeug identifizieren
„Wir haben unser System jetzt zum ersten Mal dazu eingesetzt, um Hagelschäden zu identifizieren“, beschreibt Marcel Ott den Ansatz, der allerdings stets das Einverständnis und die Unterstützung der Versicherungsnehmer erfordert. Kommt hier grünes Licht, erhält dieser einen Link zu einem Schadenformular auf einer DEKRA eigenen Plattform. Dort lassen sich in einem geführten Prozess Schritt für Schritt die Fragen zum Schaden beantworten und Bilder zur Dokumentation hochladen. Das ganze Procedere dauert in der Regel knapp fünf Minuten. Mit diesen Daten kann das KI-System anschließend durchstarten. Im Pilotprojekt lag der Fokus in erster Linie auf den reparaturwürdigen Autos, bei denen das System aufgrund des aktuellen Zeitwerts keinen wirtschaftlichen Totalschaden feststellen musste.
Effiziente Problemlösungen erfordern kreativen Einsatz der digitalen Technologie
Das Programm hat dann die eingegangenen Schadenmeldungen in zwei Gruppen aufgeteilt – Fahrzeuge mit einem Hagelschaden, die fahrbereit waren, sowie Fahrzeuge, die aufgrund von Hagelschäden an Scheiben nicht mehr fahren durften. Die Teilnehmer in Gruppe eins erhielten einen regulären Termin zur Sammelbesichtigung. Für die Autobesitzer der Gruppe zwei haben die Sachverständigen am Schreibtisch eine Kurzexpertise zur Freigabe einer Notreparatur erstellt. Damit konnte der Versicherungsnehmer zu seiner Werkstatt gehen, um die entsprechenden Arbeiten zur Wiederherstellung der Verkehrstüchtigkeit in Auftrag zu geben. Gleichzeitig wanderte das Fahrzeug von Gruppe zwei zu Gruppe eins, um dort einen Termin für die Begutachtung der verbleibenden Hagelschäden zu erhalten. „Mit diesem Modell haben wir bei unserem Auftraggeber offene Türen eingerannt – die komplette Abwicklung der Prozesse von der Kontaktaufnahme mit dem Versicherungsnehmer bis zur Freigabe der Notreparatur für den Versicherer hat nur einen Tag gedauert“, sagt Marcel Ott.
Sachverständige setzen bei Massenschäden auf den digitalen Turbo
Auch die Sachverständigen selbst könnten in Zukunft bei einer Sammelbesichtigung von Massenschäden den digitalen Turbo einschalten. Im Sommer 2024 hat DEKRA im Rahmen eines weiteren Testprogramms erstmals Hagelscanner zur Schadenaufnahme eingesetzt. Hagelscanner sind eine vergleichsweise neue Technologie, die unter Einbeziehung von Künstlicher Intelligenz den Gutachter bei den Schadenaufnahme entlasten soll. Während das beschädigte Fahrzeug den Scanner passiert, zählt und bewertet das System die Dellen. Dabei dokumentiert es per Video und hoch auflösenden Bildern lückenlos die registrierten Schäden. Damit lassen sich im Fall einer Reklamation – etwa bei einer stark abweichenden Reparaturrechnung – Einwände auf einer hochwertigen Grundlage schnell bearbeiten. DEKRA Experte Marcel Ott zieht ein positives Fazit des Projekts: Vor allem mit seiner Schnelligkeit und Reproduzierbarkeit des Ergebnisses sammelte der Scanner gute Argumente. „Unsere Sachverständigen haben mit der technischen Unterstützung bei der Schadenaufnahme fünf bis zehn Minuten Arbeitszeit pro Fahrzeug eingespart“, weiß Marcel Ott. Zudem könne das System selbst bei einer Vielzahl von Prüfungen ein durchgehend konsistentes Ergebnis mit gleichbleibender Qualität liefern.