Motorrad: Sicher im Sattel
Author: Joachim Geiger
Kluge Biker kennen ihre Grenzen. Elektronisches Sicherheitspersonal an Bord ist daher stets willkommen. Wir haben mit dem DEKRA Motorradexperten Luigi Ancona über aktuelle Assistenzsysteme gesprochen.
Motorräder stehen wie kein anderes Verkehrsmittel für Freiheit und Fahrspaß. Mit genügend Pferden unter der Sitzbank können sich Glücksgefühle einstellen, wenn ein beherzter Griff am Gashahn das Bike binnen Sekunden in den Grenzbereich katapultiert. Andererseits ist Motorradfahren eine gefährliche Angelegenheit. Schließlich können Laub auf der Fahrbahn, ein Hindernis in der Kurve oder die Unachtsamkeit anderer Verkehrsteilnehmer der Einheit von Mensch und Maschine blitzschnell den Garaus machen. „Die Unfallstatistiken zeigen, dass Fahrer von Maschinen mit amtlichen Kennzeichen vor allem auf Landstraßen gefährdet sind. Typisches Fehlverhalten ist unangepasste Geschwindigkeit, zu geringer Abstand und Fehler beim Überholen“, weiß DEKRA Unfallforscher Luigi Ancona. Wird es bei der Kurvenhatz also einmal kritisch, ist die Unterstützung des elektronischen „Sicherheitspersonals“ an Bord gefragt.
Elektronische Fahrerassistenzsysteme: beste Freunde für jeden Biker
Tatsächlich haben Fahrerassistenzsysteme in der Motorradszene einen guten Ruf, wie das Institut für Zweiradsicherheit (ifz) in Essen in einer 2020 veröffentlichten Studie herausgefunden hat. Demnach sind über 60 Prozent der befragten Motorradfahrer der Meinung, dass elektronische Systeme dazu beitragen, die Unfallzahlen zu reduzieren. Mehr als die Hälfte räumen ein, dass eine sicherheitsrelevante Ausstattung bei der Wahl des Motorrads eine entscheidende Rolle gespielt hat. Auch für den Motorradexperten Ancona liegt es auf der Hand, dass elektronische Assistenzsysteme unerfahrenen Fahrern ebenso wie alten Hasen einen handfesten Mehrwert bieten, indem sie beim Bremsen, Beschleunigen und in der Schräglage das Sturzrisiko abmildern. Das Restrisiko bleibt allerdings hoch: Während beim Auto vier Räder in der Regel für solide Bodenhaftung sorgen, wenn ein Sicherheitssystem zum Einsatz kommt, gelten beim Motorrad im Hinblick auf Fahrdynamik und Beherrschbarkeit durch den Fahrer andere Bedingungen.
Kann ein automatisches Notbremssystem funktionieren?
Elektronische Assistenzsysteme lassen sich nicht einfach aus dem Pkw auf ein Einspurfahrzeug übertragen. Ein automatisches Notbremssystem etwa ist für die Fahrzeugentwickler eine enorme Herausforderung, weil der Fahrer sein Bike unter regulären Umständen stets in der Balance halten muss. Zwei Studien im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) belegen immerhin, dass eine technische Bremsassistenz im Bereich bis Tempo 70 im Ernstfall die Bremswege deutlich verkürzen könnte. Bevor der Fahrer überhaupt eingreifen kann, ließe sich fast die Hälfte der Ausgangsgeschwindigkeit abbauen. Bei der Entwicklung neuer Assistenzsysteme ist also noch Luft nach oben. Steht am Ende der Innovationen vielleicht sogar das voll automatisierte Motorrad? Hersteller wie Honda und BMW haben bereits mit selbstfahrenden Prototypen auf der Consumer Electronics Show (CES) in Las Vegas/USA für Aufsehen gesorgt. Dass ein Motorrad in Zukunft einen Bergpass selbstständig unter die Räder nehmen könnte, dürfte für die meisten Biker jedoch eine grauenhafte Vorstellung sein – Assistenzsysteme sind zwar jederzeit willkommen, die Fahrentscheidung muss der Fahrer aber bitteschön selbst treffen dürfen. Trotzdem zeigen solche Experimente, dass die Industrie mit ihren Systemen fürs Motorrad noch jede Menge Ideen auf Lager hat.
Radarbasierte Systeme sorgen für sicheren Abstand
Honda zum Beispiel hat sich gerade erst das Patent für einen Spurhalteassistenten für Motorräder gesichert. Stark im Kommen sind radarbasierte Systeme, die automatisch den sicheren Abstand zum Vordermann einhalten und dazu die Geschwindigkeit des Motorrads anpassen. Darüber hinaus reicht das Spektrum der Assistenzsysteme vom Antiblockiersystem (ABS) über semiaktive Fahrwerke und Reifendruckkontrolle bis hin zu adaptivem Bremslicht, Berganfahrhilfe und Schaltassistent. Auch das Licht wird intelligent. So hat Zulieferer Continental einen Scheinwerferassistenten entwickelt, der den vorausfahrenden und entgegenkommenden Verkehr erfasst und automatisch zur optimalen Beleuchtung wechselt, ohne die anderen Verkehrsteilnehmer zu blenden.
ABS ist beliebt als aktives Sicherheitssystem
Die Nummer eins in der Hitliste der aktuellen Assistenzsysteme ist jedoch für viele Fahrer das bestens bewährte Antiblockiersystem. „ABS ist der Gamechanger in Sachen Fahrersicherheit beim Motorrad“, betont DEKRA Experte Luigi Ancona. Dieser Bedeutung trägt auch der europäische Gesetzgeber Rechnung: Seit dem 1. Januar 2017 ist ein serienmäßiges Antiblockiersystem bei der Erstzulassung von Krafträdern über 125 Kubikzentimeter Hubraum und über elf Kilowatt Leistung Pflicht. Seither haben Hersteller und Zulieferer diese grundlegende Sicherheitstechnologie deutlich weiterentwickelt. Neben den ABS-Sensoren zum Abgleich der Drehzahlen von Vorder- und Hinterrad kommen immer öfter auch Schräglagensensoren ins Spiel, die neue Regelfunktionen ermöglichen. „Das Kurven-ABS ist der nächste Meilenstein in der Sicherheitstechnik“, berichtet Luigi Ancona. „Das System steuert je nach Schräglage im Bruchteil einer Sekunde den richtigen Bremsdruck an Vorder- und Hinterrad ein.“ Anders als beim klassischen ABS reduziert es bei einer starken Bremsung in der Kurve das Aufstellmoment und kann das Wegrutschen der Maschine im kritischen Grenzbereich verhindern. Das Bike kann in der Folge der eingeschlagenen Kurvenlinie weiter folgen.
Jetzt rückt der Grenzbereich des Fahrers ins Visier
Eine weitere Säule der Fahrersicherheit ist die Antischlupfregelung, die selbst in Schräglage oder bei rutschigem Untergrund verhindert, dass das Hinterrad durchdreht. Auch ein beim Bremsen abhebendes Hinterrad (Stoppie) und ein beim Beschleunigen aufsteigendes Vorderrad (Wheelie) lassen sich mit Hilfe der Funktionen von ABS und ASR im Zaum halten. Bei der Stoppie-Kontrolle verringert das System den Bremsdruck am Vorderrad so weit, dass das Hinterrad die Bodenhaftung behält. Bei der Wheelie-Kontrolle dagegen nimmt die Motorsteuerung die Leistung zurück, bis das Vorderrad wieder auf dem Boden läuft. Mittlerweile rückt zunehmend auch der Grenzbereich für Motorradfahrer in den Fokus. Der Technologie-Konzern Bosch untersucht in einem Forschungsprojekt, wie sich das plötzliche seitliche Wegrutschen des Zweirads in der Kurve verhindert lässt. Das vor vier Jahren erstmals vorgestellte Sicherheitssystem arbeitet mit einem Gasdruckspeicher, der sich bei Überschreitung des festgelegten Grenzwerts schlagartig entleert und durch den dabei entstehenden Rückstoß das Zweirad wieder aufrichtet.