Elektromobilität: Offene Rechnung

Author: Achim Geiger

06. Dez. 2023 Automobil

Die Antriebswende in Europa ist ausgerufen und alle gehen hin? Schön wär’s. Dabei sind die Deadlines der EU-Kommission für die CO2-Flottenemissionen enorm anspruchsvoll. Für die Elektrifizierung der Nutzfahrzeuge ist es daher fünf vor zwölf. Aber welches System hat die besten Chancen auf das erste Etappenziel?

Die elektrische Antriebswende im Bereich der schweren Nutzfahrzeuge ist ein zentraler Baustein für einen emissionsfreien Straßengüterkraftverkehr in Europa. Die Europäische Kommission hat im derzeit laufenden Gesetzgebungsverfahren zu neuen Standards die Messlatte hoch aufgelegt: Bezogen auf die Flottenemissionen 2019 sollen die Hersteller die Emissionen ihrer Neufahrzeuge in der ersten Phase ab 2030 um 45 Prozent, ab 2035 um 65 Prozent absenken. 2040 steht dann ein großer Wurf an, wenn die Verminderung um 90 Prozent erreicht werden soll. Die grobe Marschrichtung hin zu einem Systemwechsel steht also im Prinzip fest. Allerdings türmen sich auf dem Weg nicht zuletzt aufgrund der Marktdominanz des Dieselmotors gewaltige Hürden auf. Der ist laut dem Verband der Europäischen Automobilhersteller (ACEA) mit einem Marktanteil von über 95 Prozent nach wie vor das Maß der Dinge. Andererseits setzen die meisten Nutzfahrzeughersteller bereits auf die elektrische Karte – MAN und Volvo zum Beispiel wollen ab 2030 jeden zweiten schweren Lkw mit einem elektrischen Antrieb ausstatten. Im Moment jedoch ist jeder neue E-Lkw in Kundenhand noch ein Ereignis. In der EU schlagen gerade mal rund 4.000 Neuzulassungen in den ersten neun Monaten dieses Jahres zu Buche, wobei rund 65 Prozent der Verkäufe in Deutschland und den Niederlanden stattfanden. Der Marktanteil der E-Lkw in der EU ist damit von 0,4 Prozent im Vorjahr auf 1,5 Prozent angewachsen.
Welches elektrische System ist ein relevanter Player der Antriebswende?
Kündigt sich also mit diesen Zahlen der Anfang der Antriebswende an? Die Marktanteile müssen natürlich deutlich steigen, damit die zur Senkung der Treibhausgas-Emissionen nötigen Null-Emissions-Nutzfahrzeuge im großen Stil auf die Straßen kommen. Die Kandidaten für diesen Job sind neben den batterieelektrischen Lkw die Fahrzeuge mit Wasserstoff-Brennstoffzellen und Oberleitungs-Lkw. Und wer könnte im Sprint zum Etappenziel 2030 die Nase vorn haben? Wer ist überhaupt ein relevanter Player für die Antriebswende? Mit genau diesen Fragen befassen sich rund ein Dutzend aktueller Studien. Die meisten nehmen in ihren Szenarien für einen Markthochlauf technologische und wirtschaftliche Aspekte unter die Lupe. Im Fokus stehen dabei technologische Verbesserungen, Kostensenkungen bei Batterien, Brennstoffzellen und Wasserstofftanks sowie die Entwicklung der Preise für Diesel, Strom und erneuerbaren Wasserstoff. Gemeinsam ist allen Arbeiten die glasklare Einsicht, dass ohne den zeitnahen Aufbau der öffentlichen Energie-Infrastrukturen ein nachhaltiger Antriebswechsel ein frommer Wunsch bleiben muss.
Der batterieelektrische Lkw ist der designierte Hauptakteur im Markt
Geht es allerdings darum, die künftigen Hauptakteure im Transportmarkt zu benennen, stoßen längst nicht alle Studien ins gleiche Horn. Die Analysten von McKinsey zum Beispiel gehen in ihrer Arbeit (September 2022) davon aus, dass bis 2030 in den großen Nutzfahrzeugmärkten EU, USA und China die Batterie- und Brennstoffzellenantriebe aus Emissions- und TCO-Sicht die besten Technologien für Flottenbetreiber sein werden. Je nach Region würden sich beide Antriebe dann mehr oder weniger ergänzen. Ein Votum für das Primat des batterieelektrischen Lkw kommt dagegen aus den Niederlanden, wo zuletzt ein im April 2023 aufgelegtes Förderprogramm für klimaneutrale Lkw binnen kürzester Zeit zu rund 1.600 Anfragen für diese Antriebsvariante geführt hat. Die Studie der Organisation für angewandte naturwissenschaftliche Forschung (TNO) zur Einführung von emissionsfreien Lkw in der EU und in Großbritannien (Oktober 2022) untersucht Batterie - und Brennstoffzellenantriebe in verschiedenen Fahrzeugsegmenten (Motorwagen/Sattelzug), die im städtischen Lieferverkehr, im Regional- und Fernverkehr sowie im Baugewerbe zum Einsatz kommen. Demnach sollen die Lkw mit Batterieantrieb in fast allen Fällen die kosteneffizienteste Option sein – auch dann, wenn die Preise für Batterien nur langsam sinken, die für Diesel relativ niedrig oder für Strom relativ hoch sind.
Wann schlägt die Stunde für Lkw mit Brennstoffzelle und Oberleitung?
Mögliche Einschränkungen für die Batterie-Lkw sehen die Niederländer im Fernverkehr mit Tagesfahrleistungen bis zu 1.000 Kilometern. Schlägt also dort ab 2030 die Stunde der Lkw mit Brennstoffzellen? Laut TNO allenfalls für einen sehr begrenzten Anteil der Langstrecken-Flotte. Gegen den Antrieb würden vor allem die Kosten sprechen, die selbst bei niedrigeren Preisen für Wasserstoff und Brennstoffzellen kaum im Wettbewerb mit Batterie oder Diesel bestehen könnten. Und wie steht’s mit der Alternative, einem Lkw die Antriebsenergie über ein an der Fahrbahn installiertes Oberleitungssystemen zur Verfügung zu stellen? Das Freiburger Öko-Institut untersucht in einer Szenario-Studie (August 2023) auch diesen Technologiepfad zur Elektrifizierung des Straßengüterverkehrs. Das Fazit: Das System kann mit günstigen Gesamtnutzungskosten aufwarten, dürfte aber bis 2030 kein Marktpotenzial entwickeln. Abschreiben sollte man die Oberleitung allerdings noch nicht. In Deutschland und Schweden laufen nach wie vor Praxistests auf Landstraßen und Autobahnen. Auch Länder wie die Niederlande, Italien und Dänemark sind mit einschlägigen Studien zugange. Ob es hier zu einer europäischen Lösung kommen kann, steht jedoch noch in den Sternen.
Die Antriebswende führt nicht zwangsläufig zum Erreichen der Klimaziele
Das gleiche gilt übrigens auch für die Frage, ob eine erfolgreiche Antriebswende dazu führen würde, dass der Straßengüterkraftverkehr seine Etappenziele erreicht. Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) jedenfalls meldet in seinem Ariadne-Report (Oktober 2021) mit Blick auf Deutschland daran erhebliche Zweifel an. Selbst ein sehr steiler Markthochlauf der batterieelektrischen Fahrzeuge wäre zu wenig, um die Sektorziele aus dem Bundes-Klimaschutzgesetz bis zum Jahr 2030 zu erreichen. Wie es in dem Report heißt, seien die kurzfristigen CO2-Minderungspotenziale der Antriebswende durch die Langlebigkeit der fossilen Bestandsfahrzeuge begrenzt. Bis 2045 sollte es aber mit einer nahezu vollständigen Dekarbonisierung des Verkehrssektors klappen – bei ganz geringen Mengen an Restemissionen.
Vier Fragen an Meyseng Se Tchao, Head of Future Vehicle & Mobility Services
Mit dem Antriebswechsel steht wohl ein Paradigmenwechsel vor der Tür? Wie positioniert sich DEKRA dazu?
DEKRA unterstützt den Übergang zu einer umweltfreundlicheren und damit emissionsärmeren Mobilität. Und das ganzheitlich betrachtet: Unsere Vision ist es, das komplette Verkehrs-Ökosystem auf dem Weg zu einer sicheren und nachhaltigen Welt zu begleiten. Es stimmt, dass die Elektrifizierung vor allem in den Bereichen PKW sowie Mikromobilität schneller voranschreitet. Aber uns ist es wichtig, dass auch der Fernverkehr diese Geschwindigkeit erreicht und Einzug in den Verkehrsalltag erhält.
Es wird noch lange Dieselfahrzeuge im Transportsektor geben. Wie stellt sich DEKRA auf den Übergang von der alten zur neuen Welt ein?
Wir denken nicht in „alter“ und „neuer“ Welt. Nehmen Sie zum Beispiel das Thema Sicherheitsprüfungen. Diese sind essenziell, unabhängig vom Antriebssystem. Dazu gehören beispielsweise die Prüfung und Zertifizierung von Gesamtfahrzeugen, einzelnen Bauteilen und Komponenten ebenso wie die behördliche technische Überwachung der Lkw. Und genau das bleibt auch weiterhin ein wichtiger Aspekt. Aber sicherlich gibt es durch neue Antriebssysteme auch neue Felder, auf denen wir uns bewegen: DEKRA hat als eine der ersten Prüforganisationen die Anerkennungen für alle wesentlichen Services rund um Wasserstofftankstellen erhalten. Unsere Expertinnen und Experten können die Konformität der Tankstellenanlage gemäß geltender Sicherheitsstandards sowie die Qualität des dort angebotenen Wasserstoffs attestieren. Wenn Sie so wollen, ein Beispiel für die „neue“ Welt.
Wenn sich in der Transportbranche mit dem Einzug der E-Antriebe die Flottenstrukturen verändern, was bedeutet das für die Expertenorganisation? Welche neuen Aufgaben und Kompetenzen kommen auf mittlere Sicht dazu?
In der Tat erreichen Fahrzeuge – für den Personen- ebenso wie für den Güterverkehr – ein immer höheres technologisches Niveau. Hinzu kommt, dass die gesamte Wertschöpfungskette einschließlich Ladeinfrastruktur, Batterien usw. zunehmend durch technologische Komponenten bestimmt wird. Dies bedeutet für uns, dass sich auch die Kompetenzen unserer Mitarbeitenden weiterentwickeln. Wir benötigen beispielsweise Expertinnen und Experten rund um Konnektivität, Cybersicherheit oder Künstliche Intelligenz. Darüber hinaus passen wir unser Serviceportfolio an und etablieren uns in neuen Wachstumssegmenten, u.a. der Batterie. Am DEKRA Lausitzring in Klettwitz richten wir ein neues Testzentrum für automobile und stationäre Batteriesysteme ein, um umfassende Prüf- und Expertendienstleistungen rund um die Elektromobilität aus einer Hand anbieten zu können.
Die Elektrifizierung schreitet voran - was bedeutet das für die Dienstleistungen und die Beratung?
Einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren für die Elektrifizierung ist die Verfügbarkeit von Ladeinfrastruktur. Besonders im Hinblick auf den Güterverkehr gehen wir davon aus, dass immer höhere Ladeleistungen benötigt werden, teilweise bis zu einem Megawatt. Dies birgt zusätzliche Sicherheitsrisiken, nicht nur für die Ladeinfrastruktur und das Fahrzeug, sondern auch für die Person, die das Fahrzeug bedient und lädt. Darüber hinaus müssen sich Flotten- und Privatkunden auf die Interoperabilität beim Laden ihrer Fahrzeuge verlassen können und Cyberrisiken eliminiert werden. Das Thema Sicherheit wird daher wichtiger denn je. DEKRA unterstützt hier mit Dienstleistungen rund um die Prüfung und Zertifizierung von Ladestationen und des entsprechenden Equipments. Nicht zu vergessen unsere Sicherheitsprüfungen bereits bei der Installation der Ladestationen auf öffentlichem sowie privatem Gelände.